Bei uns war alles ganz normal

Memoiren einer niederländisch-jüdischen Sängerin in Deutschland

Auszüge aus dem Buch

 

"Auuuuuu!" Mit diesem Schrei fiel mein Vater Salomon Frenk mit einem Schlag auf den Boden. Die Kette am Lkw, der ihn und meine Mutter Liselotte Kann nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen zurück in die Niederlande bringen sollte, war gebrochen. Neun Monate später, am 20. März 1946, wurde ich in Rotterdam geboren. Ein Wunder, wenn man den Brief liest, den meine Mutter weniger als ein Jahr vor meiner Geburt am 22. Mai 1945 einer befreundeten Familie schrieb. Sachlich berichtet sie darin von den Zuständen, die sie im KZ erleben musste, und von ihrer Befreiung aus dem verlorenen Zug am 13. April 1945. Den Brief beendet sie mit den Worten: "Wir selbst beabsichtigen, so bald wie möglich nach Rotterdam zurückzukehren und werden dann versuchen, wieder ein normales Leben aufzubauen und das Erlebnis in Bergen-Belsen mit all seinen Grausamkeiten und Schreckensbildern aus unserer Erinnerung zu verbannen."

Dieser Satz lässt tief blicken. Die Schreckensbilder aus der Erinnerung zu verbannen, ist meinen Eltern gut gelungen. Meine Mutter starb, ehe das Alter die Langzeiterinnerung freisetzen konnte. Mein Vater fing mit 80 Jahren an, sich zu erinnern und von seinen Erfahrungen zu berichten. Im Jahre 1993 befragten zwei Studentinnen von der Christelijke Hogeschool Windesheim in Zwolle (Niederlanden) ihn über seine Kriegserfahrungen. Das löste plötzlich eine Welle von Erinnerungen aus. Für mich war das schwer zu ertragen. Plötzlich rief er mich jeden Sonntagmorgen an und erzählte mir am Telefon eine Stunde lang über Bergen-Belsen, immer mit dem Spruch: "Du kannst nicht nachempfinden, was man uns damals angetan hat." Nein, das konnte ich nicht und wollte es auch nicht. Zu weit war ich auf meinem eigenen Weg fortgeschritten. Zu viele seelische Konflikte hätte das in meinem Leben verursacht.

Meine Mutter Liselotte war eine gebürtige Frankfurterin. Ihre Mutter war im Wochenbett gestorben und ihr Vater heiratete, nach damaligem jüdischen Brauch die Schwester der Mutter, im folgenden Mutti oder Tante Bertha genannt. Vier Jahre später wurde die Halbschwester meiner Mutter, Emma, geboren. Wenig später starb der Vater. Im Jahr 1928 zog meine Mutter Liselotte nach Rotterdam, um bei einem Verwandten (Kaufmans Huidenhandel) als Chefsekretärin zu arbeiten. Dort traf sie 1936 meinen Vater, später Boy oder Sam genannt. Sie verliebten sich und heirateten am 17. April 1938. Sechs Monate nach der Hochzeit wurde bei meiner Mutter ein Morbus Hodgkin diagnostiziert, und man gab ihr noch ein halbes Jahr Lebenszeit. Doch sie lebte. Sie überstand sogar die Deportation, das Durchgangslager Westerbork und das KZ Bergen-Belsen, gebar zwei Kinder und war die treibende Kraft hinter meinem Vater, der mehrere blühende Betriebe aufbaute. Sie starb im Alter von 52 Jahren, als ich 16 Jahre alt war.

Die Familie Frenk kam ursprünglich aus Deutschland, genauer gesagt aus Fürth, hatte sich aber schon im 18. Jahrhundert in Rotterdam etabliert. Mein Großvater, Nathan Salomon, war Viehhändler. Er heiratete Sophia van Creveld, deren Familie dort eine bekannte Metzgerei besaß. Ab 1920 arbeitete Nathan unter anderem bei dem Schiffsausrüster Reens & Co. Rotterdam war damals wie heute einer der größten Häfen Europas. Vierzehn Jahre später machte Nathan sich selbständig und gründete unter dem Namen N.S. Frenk eine Firma, die Schiffe mit Proviant und allen anderen notwendigen Produkten versorgte. Diese Firma war sehr erfolgreich. Mein Vater wurde dazu ausgebildet, das Geschäft zu übernehmen. Er machte Praktika in Großbritannien (Smithfield Meat Market in London), Frankreich (Unilever Fabrik in Nantes) und Spanien (Nestlé-Poch in Madrid), lernte die Sprachen der Länder und hatte eine wunderbare, wilde Zeit. Im Jahr 1936, als er 21 Jahre alt war, wurde er Mitgesellschafter. Von da an hieß die Firma N.S. Frenk & Son. Mein Vater war Patriot und Mitglied der Rotterdamer Bürgerwache.

Mit dem Angriff der deutschen Luftwaffe am 14. Mai 1940, auch "Rotterdam Blitz" genannt, wurde beinahe die komplette Altstadt in Schutt und Asche gelegt. Zwischen 800 und 900 Rotterdamer Bürgerinnen und Bürger verloren ihr Leben. Dieses Ereignis führte unmittelbar zur Kapitulation der niederländischen Regierung. Durch das Bombardement erlitt mein Großvater ein schweres Trauma und war nicht mehr arbeitsfähig. Mein Vater musste das Geschäft sofort vollständig übernehmen. In dieser Zeit hatte mein Vater durch einen guten Freund und Kollegen, Louis Speelman, Kontakte zur uruguayischen Botschaft. Speelman war Eigentümer von Speelman Bross und rüstete spanische und südamerikanische Schiffe aus. Außerdem fungierte Speelman seit 10 1936 als Konsul der Botschaft von Uruguay in Rotterdam. Sein Amt wurde 1940 von P.E.J. Kroos übernommen. Es ist unklar, was mit Speelman, der auch Jude war, in diesen Jahren geschah. Wir wissen aber, dass er 1943 in Auschwitz ermordet wurde.

Herr Kroos verlor durch das Bombardement seine Wohnung, und mein Vater half ihm, eine neue Unterkunft zu finden. Vielleicht zollte ihm dieser seine Dankbarkeit dafür, dass er meinem Vater bald darauf eine pro forma Anstellung in der uruguayischen Botschaft besorgte. Er selbst erhielt außerdem eine Einreisebewilligung für Uruguay. Im nächsten Schritt versuchte er, ein Ausreisevisum bei der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung in Amsterdam zu erhalten. So bekamen meine Eltern den Stempel "Freigestellt von Deportation" in ihren Pass und kamen außerdem auf eine sogenannte "Austauschliste". Auf diese Liste kamen die Namen von Menschen, die ein Einreisevisum für ein Land hatten, das sich als neutral aufgestellt hatte, mit Deutschland kooperierte oder diplomatische Beziehungen pflegte. Dadurch waren meine Eltern registriert und hatten später bei der Deportation eine Art Sonderposition: Statt gleich in eines der Vernichtungslager geschickt zu werden, kamen sie in das sogenannte "Sternlager" von Bergen-Belsen. In Rotterdam wurde die Lage der Juden immer schwieriger. Im Jahr 1941 zogen meine Eltern nach Driebergen, in der Nähe von Utrecht, und lebten in einer Pension. Die Besitzerin, Frau van Ginkel, hatten sie zufällig kennengelernt. Sie war eine alte Jungfer, die Lotte und Boy ohne Zögern in ihr Haus aufnahm.

 

Viele Jahre später, ich war 45 Jahre alt und lebte bereits seit 18 Jahren in Konstanz, besuchte ich eines der ersten "Seminare für die zwete Generation", das Kinder von Verfolgten des Nationalsozialismus in Doorn (Niederlande) zusammenbrachte. In Deutschland gab es zu der Zeit noch keine Therapeuten, die sich an dieses Thema wagten. Die Niederländer waren da schon weiter. Ich hatte meinen Vater in Rotterdam besucht und ihm gesagt, dass ich zu diesem Seminar gehen wolle. Er war sehr erstaunt und meinte: "Wie das denn? Bei uns war alles ganz normal!" Dass er selbst erst im 80. Lebensjahr beginnen würde, über die Vergangenheit zu sprechen, war ihm damals freilich noch nicht bewusst.

Als erste Person traf ich dort einen jungen Mann, der sich als Micha van Dijk vorstellte. Ich wiederholte den Namen in perfektem Niederländisch, und er war erstaunt über meine Aussprache. Er dachte wohl, ich sei Deutsche. Als ich mich ihm als Ruth Frenk vorstellte, sagte er: "Dein Vater hat meine Eltern gerettet." So erfuhr ich, dass mein Vater viele falsche Papiere für Freunde und Bekannte der jüdischen Gemeinde besorgt hatte. Das war ein sehr emotionaler Start in dieses Wochenende. Es ging weiter, dass wir in drei Gruppen eingeteilt wurden: 1) Kinder von Überlebenden der Konzentrationslager, 2) Kinder von untergetauchten Eltern, 3) Kinder von Eltern, die ins Exil gegangen waren. Ich gehörte zu der ersten Gruppe. Doch nie zuvor hatte ich mich so identifiziert. Die Teilnehmer meiner Gruppe konnten nicht begreifen, dass ich zufrieden in Deutschland lebte. Am Ende des Wochenendes galt ich als "Holländerin, die so gerne in Deutschland lebt - 100 Meter von der Schweizer Grenze!" Dieses Wochenende hat mich sehr beeindruckt und geprägt. Zum ersten Mal begegnete ich Menschen, die zu Hause ähnliches erlebt hatten wie ich, und ich lernte, dass meine Verletzungen auch bei anderen genauso entstanden waren.

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Vorträge


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Ruth Frenk freut sich über Ihr Interesse:

„Mit Vorträgen in den Schulen möchte ich meine Erfahrungen als Jüdin in Deutschland an den Schüler vermitteln und damit die Gelegenheit schaffen aus meinen Erfahrungen zu berichten, mit mir zu diskutieren und mehr über das Judentum zu lernen. Ich möchte Vorurteile abbauen und in den Medien verbreitete Stereotypen entlarven.

 

Ähnliche Ziele setze ich mich bei den Vorträgen für erwachsene Zuhörer, wobei ich hier auch meine Erfahrungen als Sängerin jüdischer Lieder und als Gesangspädagogin einfließen lasse.“

Bibliographische Daten


Einband: kartoniertes Buch

Erscheinungsdatum: 2022

Herausgeber: Erhard Roy Wiehn

Verlag: Hartung-Gorre

Seitenzahl: 188 Seiten

Sprache: Deutsch

ISBN 978-3-86628-762-4
Preis: 24,80 Euro

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Buch-Flyer